Artikelformat

„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“

Wenn ich glaube, dass der Mensch das Ebenbild Gott ist und von ihm eine besondere Würde verliehen bekommen hat, dann verpflichtet uns das. Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass der Mensch von der Tierwelt her definiert werden kann und sich nur unwesentlich von der Tierwelt unterscheidet, dann hat das Folgen. Unsere Ethik im Bereich des Lebensschutzes „geht vor die Hunde“, weil wir den Unterschied zwischen Tier und Mensch immer mehr relativieren.

Wie sich das weltanschaulich ausdrückt, wird erkennbar in dem Buch „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ von Richard David Precht. Dieses Buch erhebt den Anspruch, eine kleine Einführung in die Philosophie zu sein. Aber in Wirklichkeit ist diese „philosophische Reise“ eine Einführung in eine spezielle philosophische Schule, den sogenannten Präferenz-Utilitarismus. Und zum anderen ist es ein Loblied auf die Hirnforschung. Infolgedessen bleiben viele eigentlich unverzichtbaren Themen und philosophischen Ansätze unerwähnt

Diese Oberflächlichkeit verleiht dem Buch allerdings auch eine gewisse Leichtigkeit. Richard David Precht verknüpft seine Darstellung mit vielen historischen und gesellschaftlichen Bezügen. Vermutlich gehen die einzelnen Beiträge auf Radiosendungen zurück und dementsprechend unterhaltsam und verdaulich ist das Material aufbereitet.

Etwas anderes, was dieses Buch interessant macht und warum ich es gelesen habe, besteht darin, dass die Frage nach der Philosophie und dabei vor allem nach der Ethik ziemlich durchgehend verknüpft wird mit der Frage nach dem Menschenbild, mit der Frage danach, welche Vorstellungen ich von mir selbst habe. Das kommt ja auch im Titel zum Ausdruck: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“.

Dieser Ansatz ist sehr lobenswert und berechtigt. Meine Lebenssicht oder Weltanschauung, meine Moral und mein Lebensstil haben unmittelbar etwas zu tun mit meinem Menschenbild, mit meiner eigenen Identität und dem Bild, das ich von mir und meinen Artgenossen habe.

Wie wird die Frage „Wer bin ich?“ von Richard David Precht beantwortet.

Er vertritt in seinem Bestseller, der weite Verbreitung gefunden hat und tatsächlich auch gelesen wird, die Auffassung, dass nach Darwin „Gott nicht mehr als persönlicher Urheber und Lenker der Menschen“ in Betracht kommt, dass „die erhabene Wahrheit vom Menschen als einer gottgleichen Kreatur zerfiel“, dass die „Erhabenheit des Menschen unglaubwürdig“ geworden ist und di schlichte Wahrheit darin besteht, dass der Mensch „ein intelligentes Tier“ ist (S. 23-24.39).

Unser Geist wird nach seiner Auffassung, auch wenn die Hirnforschung das zugegebenermaßen noch nicht bestätigen konnte, durch einen „Mechanismus“ im Hirn „erzeugt“ (S. 49). Wie vor langer Zeit der Mensch bereits als chemische Maschine bezeichnet wurde (vgl. J. O. de la Mettrie), so stellt er fest, dass „unser gefühltes Ich ein unglaublich komplizierter Vorgang im Gehirn ist“ (S. 72) – und nicht mehr!

Auch wenn Christen den Leib-Geist-Zusammenhang sehr betonen, würden sie aber nicht die Persönlichkeit auf neurologische Körperfunktionen reduzieren, wie es R. D. Precht tut: Du denkst nicht mit deinem Gehirn, sondern Du bist ein Gehirnzustand! (S. 79).

Er schreibt von der „Entzauberung des Ich“ und behauptet: „Als Darwin nahelegte, dass sich alle Lebewesen aus primitiven Vorfahren entwickelt haben und auch der Mensch keine Ausnahme davon macht, beschrieb er ganz offensichtlich eine Tatsache. Die Annahme, dass der Mensch eine Sonderanfertigung Gottes sei, war definitiv falsch.“  (S. 71.72).

Was das für unser Selbstverständnis bedeutet, spitzt sich in manchen Passagen des Buches so zu, dass er dem Menschen die Fähigkeit zu einer vernunftgesteuerten Lebensausrichtung abspricht: „Wir wissen heute, dass das Bewusstsein des Menschen nur sehr eingeschränkt eine Sache der Vernunft ist. Das meiste in unserer Welt ist vorsprachlich festgelegt, als Folge von Fähigkeiten, die Menschen und andere Tiere gemeinsam haben. Der klare Verstand als zentrales Merkmal des menschlichen Handelns ist eine Fiktion… Je mehr uns die Hirnforschung zeigt, umso näher rücken wir unseren nächsten Verwandten.“ (S. 229).

Das ist sein Ausgangspunkt, der von vielen Menschen heute geteilt wird, ohne dass diese sich so viele Gedanken darüber machen wie R. D. Precht. Aber wohin führt das? Einige ethische Auswirkungen davon werden in diesem Buch erläutert.

Unter anderem fragt Precht danach, ob Embryonen im vergleichbaren Sinne mit einem erwachsenen Menschen, der entsprechende psychische und geistige Fähigkeiten hat „ein unbedingt unantastbares Lebensrecht“ besitzen? (S. 186)

Und er kommt zu dem Ergebnis, dass der „Embryo ein menschliches Wesen ist insofern, als er der Spezies Homo sapiens angehört. Aber er ist kein Mensch im vollen moralischen Sinne, also keine Person“ (S. 188), denn „Embryonen haben keine komplexen Absichten und Wünsche. Vermutlich haben sie einen Instinkt, am Leben bleiben zu wollen, aber das unterscheidet sie nicht vom Salamander.“ (S. 189).

„Gewiss“, so seine weitergehende Schlussfolgerung, „haben Föten ab einer bestimmten Entwicklungsstufe ein Bewusstsein, aber das haben in ähnlicher Form auch Schweine und Rinder, die wir gleichwohl töten, um sie zu verspeisen.“ (S. 189).

Wenn Selbstbewusstsein als alleiniger Maßstab für den Lebenswert eines Lebewesens gilt, „dann stehen Neugeborene und geistig sehr stark behinderte Menschen auf der gleichen und sogar auf einer niedrigeren Stufe als zum Beispiel ein Schäferhund.“  (S. 218).

R. D. Precht gibt als kluger Mensch zu, dass selbst dann, wenn man einem Embryo das Selbstbewusstsein absprechen will, in jedem Embryo das Potenzial des menschlichen Lebens steckt. Aber weil seiner Vermutung nach das menschliche Leben im Embryozustand kein Glücks- und Schmerzempfinden und keinen Bewusstseinszustand hat, relativiert er die Tötung eines Embryos mit dem herausfordernden Vergleich: „Halten Sie es wirklich für das Gleiche, ob Sie ein lebendes Huhn in kochendes Wasser werfen oder ein Ei?“ (S. 190).

Und weil mindestens bis zum Alter von drei Monaten nur von einem „Vegetieren“, d. h. von einem „Leben ohne Bewusstsein“ gesprochen werden kann, „beginnen das Recht auf Leben, sein Wert und seine Würde nicht mit dem Zeugungsakt. Es ist deshalb nicht einzusehen, warum Embryonen bis zum dritten Monat nicht abgetrieben werden dürfen. Bei weiter entwickelten Föten ist die Sache problematischer. Eine Tötung ist von Monat zu Monat eine moralisch bedenklichere Sache…“, aber deswegen natürlich nicht grundsätzlich auszuschließen (S. 195.196).

Doch wenn einem Embryo aus den genannten Gründen kein absoluter Schutz zugesprochen werden kann, gilt das Gleiche dann nicht auch für einen neugeborenen Säugling?

Diese Schlussfolgerung stammt nicht von mir, sondern die wird in logischer Konsequenz von ihm selbst aufgegriffen. Er schreibt: „Dieser Einwand ist sehr gewichtig. Und in der Tat gibt es Präferenz-Utilitaristen, für die der unbedingte Lebenswert eines Kleinkindes erst ab dem zweiten Lebensjahr einsetzt.“ (S. 191).

Natürlich befürworten auch diese Menschen nicht, dass Kleinkinder ohne schwerwiegende Motive getötet werden können, aber „die Gründe dafür liegen nicht in dem Wert, den die Person für sich selbst darstellt. Sie liegen in den sozialen Fragen…“ (S. 191).

Und natürlich kann dieser Ansatz weiter gesponnen und auf Sterbehilfe und andere Fragen bezogen werden, was in diesem Buch auch geschieht. Trotz geschickter Zurückhaltung, mit der uns der Autor vor der eindeutigen Darstellung seiner eigenen Positionen verschont, wird zwischendurch erkennbar, was R. D. Precht vertritt: „Das grundsätzliche Verbot, einen Menschen aktiv zu töten, ist also nicht die Folge eines religiösen Dogmas von der Heiligkeit des menschlichen Lebens.“ (V. 207), sondern er begründet unsere Zurückhaltung in dieser Hinsicht mit einer „Intuition“, die stammesgeschichtlich verwurzelt ist.

Grundsätzlich gilt im Hinblick auf den Schutz des menschlichen Lebens: „Es ist nicht leicht für einen Präferenz-Utilitaristen zu sagen, warum dieser Schutz größer sein soll als etwa der Tierschutz.“  (S. 191).

In der fortschreitenden Gedankenabwicklung verdünnisiert sich das inhaltliche Niveau des Buches. Es wird zusehends zu einem allgemeinen Ratgeber im Sinne des positiven Denkens nach dem Motto: Es gibt kein Ziel, aber der Weg kann ganz nett sein.

Ich bin weit davon entfernt, mich über R. D. Precht lustig machen zu wollen. Er ist ein begabter Autor und besitzt eine bewundernswerte Menge von Detailwissen, z. B. im Blick auf verschiedene komplizierte medizinische Themen, auch wenn das Gesamtkonstrukt für mich nicht wirklich befriedigend oder schlüssig ist.

Aber wir Christen sind ihm ja auch anscheinend die glaubwürdige Darlegung einer christlichen Alternative schuldig geblieben. Im Vorwort seines Buch beschreibt R. D. Precht seine „unerquicklichen“ Erfahrungen mit der Kirche: „Mein Zivildienst als Gemeindehelfer freilich regte nicht zu kühnen Gedanken an; seit ich die evangelische Kirche von innen gesehen habe, mag ich den Katholizismus. Was blieb, war die Suche nach dem richtigen Leben und nach überzeugenden Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Ich beschloss, Philosophie zu studieren.“ (S. 10).

Heute werden wir beobachtet, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind. Aber die Menschen um uns herum ziehen ihre Schlüsse aus dem, was wir denken, sagen und leben. Und Morgen schreiben sie ihre Bücher.

Dieses Buch von R. D. Precht lässt erkennen, wie in den Fragen der Menschenwürde die Alternative zum Christentum aussehen wird. Hier bestätigt sich, was der frühere Bischof der hannoverischen Kirche, Hanns Lilje, bereits 1962 in seinem Buch „Atheismus, Humanismus, Christentum – Der Kampf um das Menschenbild unserer Zeit“ festgestellt hat: Die inhaltliche Bestimmung der Humanität ohne Bezugnahme auf die christliche Lehre fällt sehr schwer und endet in der Regel in der „Humanolatrie“  (P. Emmanuel).

Autor: Andreas Klotz

Baujahr 1961, seitdem ziemlich viel in Deutschland herumgekommen, glücklich verheiratet und Familienvater, seit 2015 Generalsekretär des Bibellesebundes.

5 Kommentare

  1. Das sind auf jeden Fall interessante Erkenntnisse. Und es erklärt, warum so viele Menschen bei Abtreibungen keine Probleme sehen.
    Ich frage mich nur, warum bei uns Christen, dieser krasse Unterschied, wie man den Wert JEDES Menschen definiert, nicht viel mehr und deutlicher zu spüren ist? Das betrifft ja nicht nur das Thema Abtreibung. Warum muss ich mir immer wieder bewußt machen, ja regelrecht einreden, dass jeder Mensch ein wertvolles (und möglicherweise verlorenes!) Gegenüber Gottes ist? Beschreibt Precht vielleicht tatsächlich die natürliche, menschliche Grundhaltung die Gottes Geist in uns erst mal durchbrechen muss?
    Ich möchte Gott darum bitten, in mir seine Wertvorstellung eines jeden Menschen einzumeißeln.

    Antworten
  2. Auch wenn sich der Mensch als Ebenbild Gottes vom Tier unterscheidet, stellt sich mir die Frage, ob nicht auch Tiere als Geschöpfe Gottes ein grundlegendes Recht auf Leben besitzen. In diesem Falle sollten wir, wenn wir Abtreibung aus unserem christlischen Menschenverständnis heraus ablehnen, auch das Töten von Tieren zumindest kritisch hinterfragen und zum Beispiel eine vegetarische Ernährung anstreben. Schließlich ist der Konsum von Fleisch, auch wenn er in der Bibel oftmals vorkommt, für die meisten von uns aus ernährungstechnischer Sicht heute nicht mehr notwendig, sondern dient ausschließlich dem Genuss. In meinem (englischsprachigen) Philosophie-Blog habe ich mich vor Kurzem mit diesem Thema beschäftigt, siehe auch truthandvalue.wordpress.com/2011/11/07/on-the-scope-of-value-a-call-for-vegetarianism.

    Antworten
    • Andreas Klotz

      04/01/2012 @ 11:26

      Auf jeden Fall ist der Mensch verpflichtet, die Tiere als Geschöpfe Gottes ernstzunehmen und als solche zu behandeln. In diesem Sinne gibt es bereits im Alten Testament Tierschutzbestimmungen. Und es wird darüber hinaus in der Bibel zum Ausdruck gebracht, dass sich Frömmigkeit auch im Umgang mit den Tieren erkennbar macht (vgl. Sprüche 12, 10: „Der Gerechte erbarmt sich seiner Tiere, aber der Gottlose ist unbarmherzig.“). Folgerichtig wurde der erste Tierschutzverein in Deutschland von einem engagierten Christen, dem Pietisten Albert Knapp, gegründet. – Ich gehe auch soweit mit, dass unsere Ernährungsstrategie grundsätzlich hinterfragt werden darf und muss: qualvolle Tierhaltung, Ausbeutung, Beliebigkeit und Sinnlosigkeit in der Abschlachtung von Tieren… Einer generellen Ablehnung von Fleischgenuss würde ich allerdings nicht folgen können.

      Antworten
      • Warum können Sie „…einer generellen Ablehnung von Fleischgenuss […] nicht folgen“? Können Sie darauf näher eingehen?

        Antworten
        • Andreas Klotz

          20/02/2012 @ 21:14

          Ich kann einer generellen Ablehnung des Fleischgenusses nicht folgen, weil uns die Bibel sowohl ausdrücklich (1Mose 9,3) als auch indirekt den Genuss von Fleisch erlaubt. Es ist klar, dass diese Möglichkeit missbraucht werden kann (vgl. Massentierhaltung oder die Missachtung von Tierschutz). Und im Hinblick auf den eher überfütterten Lebensstandard reicher Gesellschaftskulturen können einer fleischlosen Ernährung vielleicht auch gesundheitliche Aspekte abgewonnen werden. Genauso wie angesichts des weit verbreiteten missbräuchlichen Umgangs mit Alkohol der Verzicht darauf in unserer Zeit ein manchmal sehr angebrachtes Signal sein kann. Aber die Bibel spricht an keiner Stelle davon, dass der Mensch schon grundsätzlich einen Fehler begeht, wenn er das Fleisch von Tieren isst. Ganz im Gegenteil gehört das – allerdings im richtigen Maße – zu seinen ihm von Gott gegebenen Lebensmöglichkeiten, die er zwar verantwortungsvoll wahrnehmen soll, aber auch genießen darf.

          Antworten

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


SPAM-Schutz *